Freitag, 6. Februar 2015

Nachts, eine Erzählung.

KAPITEL-VERZEICHNIS

1. Vorwort
2. Nacht ... endlich
3. Aufbruch
4. Sie & Wir
5. Beobachtungen
6. Heute aber
7. Auf dem Weg
8. Der Bruchteil einer Sekunde
9. Das Ende


Prolog

… mich regten diese Gedanken schon zu lange an, viel zu oft schon musste ich nur daran denken. Jetzt musste ich endlich handeln, endlich meine Bestimmung erfüllen, um ja nicht daran zu ersticken. Es war an der Zeit endlich die Hüllen fallen zu lassen, der Welt meine schlichte Wahrheit zu zeigen.



NACHT … ENDLICH!

Dies war schon immer meine liebste Zeit.
Ich liebe diese Ruhe, die dann über diese geschäftige Welt hereinbricht, wenn die Nacht alles zum Verstummen und Erliegen bringt. Leise öffne ich die Tür meines Zimmers, schaue vorsichtig den Flur entlang. Stille, diese herrliche Stille um mich herum, nur von dem leisen Brummen der Neonlampe gestört, die den Flur trüb beleuchtet. Es irritiert mich ein wenig, aber ansonsten sind keine weiteren Geräusche mehr zu hören. Meine empfindlichen Augen schmerzen bei dem Versuch mich an das Licht zu gewöhnen, denn sonst herrscht immer nur Finsternis um mich herum.


Selbst in mir ist diese Finsternis.
Alles was ich so gerne sehen würde, alles, das meine Sicht der Dinge ändern könnte, versteckt sich darin vor mir. Wie schwarze Schleier verdecken mir eure Worte und Taten, genauso wie eure Blicke und Gesten, die Sicht auf diese eure Welt. Allein der Gedanke daran sorgt dafür, dass ein dunkler Brei aus Schmerz und Demütigungen meine Seele überzieht, alte Narben aufreißt und sie erneut bluten lässt.

Tränen schießen mir bei diesem Gedanken in die Augen, und hastig ziehe ich mich wieder in mein Zimmer zurück, schließe die Tür lautlos hinter mir ab.

Ein irrwitziger Gedanke, aber … kann es sein, dass heiße Tränen Narben hinterlassen … sich in das Gesicht einbrennen? Ängstlich sehe ich in den Spiegel, schaue aber in ein relativ hübsches Gesicht. Nach euren Maßstäben sogar auf einen schönen Menschen. Wie kann das Geschöpf, dessen Seele so unendlich hässlich ist, nur so gut aussehen? Warum kann man mir meine inneren Verletzungen nicht von außen ansehen? Meine Seele ist schwarz und verdorrt, und doch lebe ich unter euch, ohne das es euch auffällt. Meine Hände fangen an zu zittern, aber nur wegen diesem unbändigen Hass … und der Wut auf alles Leben um mich herum.

Es wird Zeit, dass ich mich wieder fange, denn mit aller Macht zieht es mich nach draußen. Langsam zieht sich die Erinnerung wieder auf ihren angestammten Platz in die hinterste Ecke meines Gedächtnisses zurück, und gibt so meinem Verlangen nach Erlösung wieder den nötigen Freiraum.



AUFBRUCH

Heute ist meine große Nacht, heute werde ich hoffentlich endlich auferstehen aus meiner Asche. Mit krächzender Stimme versuche ich meinem Ebenbild im Spiegel vor mir Mut zu machen, ihn an sein Vorhaben zu erinnern. Auf dem Weg aus dem Haus begegne ich niemanden. Eiligen Schrittes haste ich zu dem kleinen Wäldchen oberhalb dieses Städtchens. Endlich umschließt mich die wohlige Schwärze der Nacht, ungestört von den Lichtern der Stadt. Ich lege den Kopf in den Nacken und schließe die Augen. Gierig sauge ich die frische Luft ein, freue mich über den Regen der gerade niedergeht.

Diese Nacht verspricht einfach herrlich für mich zu werden. Voller Erwartungsfreude und Ungeduld blicke ich mich unwillkürlich suchend um, kann ihn aber nirgends entdecken. Ist für mich nicht weiter verwunderlich, denn wir hatten weder Ort noch Zeitpunkt abgemacht. Aber er hatte mir zugesichert, dass er zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein wird. Ich weiß, dass es so sein wird, denn das ist nur eines seiner besonderen Talente. Obwohl er, jedenfalls nach meinem Empfinden, allzu selten für mich da ist, konnte ich mich immer auf ihn verlassen, wenn es darauf ankam.

Allerdings stört es mich gewaltig, dass er sich nie die Zeit nimmt mich auf meinen Streifzügen durch neue Städte und Ortschaften zu begleiten. Weder bei der Auswahl eventuell notwendiger Fluchtwege, noch bei der Suche nach einem passenden Objekt, stand er mir bisher hilfreich zur Seite. Allein deshalb waren, meiner Meinung nach, bisher alle Versuche, die ich bis heute schon unternommen hatte, ohne den krönenden Erfolg geblieben.

Aber sein Vertrauen in mich, oder letztlich doch nur in mein unbändiges Verlangen danach, mir endlich dieses Erlebnis zu gönnen, scheint schier unermesslich zu sein.

Durch meine Unsicherheit, und mein zu großes Mitgefühl mit dem Leid anderer Menschen, war es mir bisher nie gelungen diesen letzten und endgültigen Schritt zu machen.

Wie eine unsichtbare Grenze, die mein mitleidiges Herz sich zu überschreiten weigerte, hatte ich mir meinen Traum bisher nie bis zur letzten Konsequenz erfüllen können. Nun aber, nach einigen vergeblichen Anläufen, war es ihm endlich gelungen mir die unbedingte Notwendigkeit dieses Schrittes klarzumachen.

Da ich bei dem letzten Versuch nur halbherzig zur Sache gegangen war, sozusagen ‘verbrannte Erde’ hinterlassen hatte, waren wir in diese Stadt im Süden geflohen.

Man mag an Bestimmung glauben, oder auch nicht, aber hier fühlte ich mich endlich angekommen.

Alles was notwendig war, um meine Existenz in diesem Ort geheim zuhalten, hatte sich quasi von selbst ergeben. Unscheinbar, fast wie unsichtbar, ging ich hier in der Menge unter. Hier war ich lediglich ein Niemand unter anderen Niemanden, gesichts- und konturenlos. Der ferne Glockenschlag der Kirche mahnt mich endlich aufzubrechen, mich meinem Traum wieder zuzuwenden. Hastig mache ich mich, auf den von mir zuvor erkundeten Schleichpfaden, auf in das Zentrum dieser Kleinstadt. Scheinbar ziellos irre ich, wie schon unzählige Nächte zuvor in meinem Leben, durch die Straßen dieser Stadt.

Ein Suchender bin ich, soviel ist klar.

Aber wonach suche ich eigentlich?
Bin ich auf der Suche nach Erlösung? Nein, wohl kaum. Ich habe ein klares Ziel vor Augen, suche nach der Erfüllung meiner Gedanken und Vorstellungen, die ich nun endlich ausleben und genießen will, und muss. Heute ist meine große Nacht, heute werde ich hoffentlich endlich auferstehen aus meiner Asche. Mit krächzender Stimme versuche ich meinem Ebenbild im Spiegel vor mir Mut zu machen, ihn an sein Vorhaben zu erinnern.



SIE & WIR

Ich hatte die letzten Wochen dazu genutzt diese Stadt besser kennen zu lernen, geheime Fluchtwege erkundet, für Autos unwegsame Strecken ausfindig gemacht.

Wie immer musste ich das alles allein bewerkstelligen, denn für ihn zählt einzig und allein dieser eine Moment, nicht die Umstände drum herum. Nein, noch nicht einmal der Vorgang als solches scheint ihn wirklich zu interessieren. Letztlich geht es ihm nur um den Bruchteil einer Sekunde. Unwillkürlich denke ich an sie.

Sie scheint mir das geeignete Objekt für meine Begierde zu sein, obwohl – oder gerade weil – ich mich so sehr zu ihr hingezogen fühle. Da ist ganz tief in mir dieses Gefühl … nein, besser das Wissen, dass sie nur für mich auf dieser Welt ist, nur auf mich gewartet hat.

Sie war mir bei einem meiner nächtlichen Streifzüge durch diese Stadt aufgefallen.
Eigentlich wohl eher das Geräusch ihrer Schuhe auf dem Bürgersteig. Dieser Klang ließ mich sofort aufhorchen. Ihre Schritte klangen so verheißungsvoll für mich, luden mich auf eine unerklärliche Art förmlich ein ihr zu folgen. Dieser Rhythmus, wie sie einen Fuß vor den anderen setzte, übereinstimmend mit meinem Herzschlag. Energisch, aber gleichzeitig auch verhalten, setzte sie ihre Schritte. Fast bedächtig, ohne Eile und scheinbar ohne bestimmtes Ziel.

Ich beeilte mich näher zu ihr aufzuschließen, blieb aber dabei immer darauf bedacht nicht unvermutet in ihr Sichtfeld zu geraten. Passend zu dem Rhythmus ihrer Schritte auf dem Pflaster spielte in meinem Kopf eine Melodie. Worte malten Bilder in meinen Kopf und formierten sich zu einem passenden Text – fast schon ein Liebeslied, das so entstand.

Urplötzlich endete es dann. Sie zögerte einen Moment. Mitten im nächsten Schritt erstarrte sie. Sie schien kurz zu überlegen, ganz leicht drehte sie den Kopf ein wenig zur Seite, ganz so, als wollte sich vergewissern wer da hinter ihr war. Dann aber besann sie sich eines Besseren, und ging forsch und zielstrebig auf das Lokal an der Ecke zu, und verschwand, zu meinem Bedauern, darin.

Es hat mich nach diesem Abend immer wieder in diese Gegend mit dem Lokal zurückgezogen, in der Hoffnung ihr hier wieder zu begegnen. Zu übermächtig war inzwischen diese Vorstellung von ihr in meiner Gedankenwelt geworden, wenn ich in meinem Zimmer saß und mich mit ihm über die Durchführung meiner Pläne auseinander setzte. Natürlich hatte ich ihm, gleich nach dem ich wieder in meinem Zimmer war, ausführlich von ihr berichtet. Noch während ich ihn mit meinen Träumen von ihr überhäufte, fiel mir sein gelangweiltes Gehabe auf. Für ihn schien es nichts Neues, und erstrecht nichts Besonderes zu sein, dass ich ihr begegnet war, höchstens, dass es jetzt erst passiert war.

“Jeder hat seine Bestimmung, und für alles kommt die richtige Zeit!”

Das war alles was er überhaupt dazu zu sagen hatte.
Dann ging er schon wieder auf den großen Plan ein. Allerdings bezog er sie jetzt wie selbstverständlich mit in diesen Plan ein, stellte sie sogar in den Mittelpunkt unseres Vorhabens. Mit nicht enden wollender Begeisterung stellten wir uns von da an immer wieder genau diesen Moment vor, an dem ich ihre Seele aus den Gefängnis ihres Körpers befreien würde. Jenen scheinbar viel zu kurzen Augenblick zwischen Leben und Tod, an dem wir ihren letzten Herzschlag hören und fühlen würden. Keiner von uns beiden würde diesen Moment ungenutzt verstreichen lassen. Wir waren zu dem Ergebnis gekommen, dass er sich wohl am besten in ihren Augen beobachten lassen würde, der Augenblick des Übergangs in das Unbekannte.



BEOBACHTUNGEN

Lange Zeit traute ich mich nicht dieses Lokal zu betreten, lungerte nur in der Nähe davon herum – immer in der Hoffnung sie doch endlich wieder sehen und ihre Schritte hören zu können. Nach und nach nahm mein Verlangen nach ihr überhand, über mich und meine Vernunft, und ich betrat, ganz gegen meine Abscheu vor Menschenansammlungen und geschlossenen Räumen, dieses Lokal. Gedämpftes Licht, laute Musik, Stimmengewirr von unzählig vielen Menschen nehmen mich und meine Wahrnehmung gefangen. Die alte Panik vor Menschen keimt in mir auf.

Unwillkürlich verkrieche ich mich in die dunkelste Ecke dieses Lokals, fern ab von allem Trubel. Langsam werde ich wieder ruhiger, zumal meine Augen sich an das trübe Licht gewöhnt haben, und ich in der Menschenmenge einzelne Personen ausmachen kann. Kein undefinierbarer Mob mehr, also auch keine Bedrohung.

Da ist es, dieses Gefühl von Nähe … das Gefühl von dieser eigentümlichen Spannung, welches die Luft fast vibrieren lässt. Sie muss hier sein, sich mit mir zusammen in diesem Raum befinden. Mein suchender Blick durchforscht den Raum auf der Suche nach ihr, und bleibt dann einer weiblichen Person, die nur schemenhaften, als Schatten gegen das Licht der Theke zu erkennen ist, hängen.

Obwohl ich sie eigentlich nicht erkennen konnte, da ich bisher lediglich ihren Umriss aus einiger Entfernung von hinten gesehen habe, bin ich mir sofort absolut sicher sie gefunden zu haben. Sie sitzt alleine auf dem Barhocker an der Theke, während seitlich von ihr ein Kerl versucht sich ihrer Aufmerksamkeit zu versichern. Wild mit den Händen gestikulierend redet er ohne unterlass auf sie ein. Sie aber lässt es scheinbar völlig kalt, denn ihr Blick schweift ziellos durch den Raum. Hin und wieder nickt sie huldvoll irgendwelchen Leuten zu, die sie beim Bestellen ihrer Getränke am Tresen grüßen. Keiner aber gesellt sich zu ihr, fasst sie an oder nähert sich ihr sonst irgendwie auf eine vertrauliche Weise.

Ich habe erst mal genug gesehen, bin mir sicher, dass ich sie jederzeit hier wiederfinden werde. Dies muss ihr Stammlokal zu sein, jedenfalls benimmt sie sich so, als wenn sie hier heimisch wäre. Um zu vermeiden das sie mich hier entdeckt, verlasse ich schnell wieder das Lokal, um dann vor der Tür einen herzenstiefen Seufzer auszustoßen.

Inzwischen habe ich schon viele Abende und Nächte in diesem Lokal verbracht, so das ich genau ihre Ankunftszeit und den Zeitpunkt ihres Aufbruchs kenne. Und ich bin gerne hier. Keine Ahnung warum, doch ein Gefühl von Sicherheit überkommt mich hier. Selbst wenn sie einmal nicht anwesend ist, nicht auf ihrem angestammten Platz zu entdecken ist, kann ich mir hier in diesem Raum jederzeit ihre Nähe in mein Fühlen und Denken zurückholen. Ihre Mimik, ihre Gesten und all ihre Bewegungen habe ich gierig in mich aufgesogen, fast so, als würde ich ohne all das ersticken. Es ist für mich eine Offenbarung, wie sie immer öfter versucht meinen forschenden Blick einzufangen, mit mir versucht in Verbindung zu treten. Fast ist es schon so, als wäre sie genauso nur noch meinetwegen hier, wie ich ihretwegen.

Es ist schwer, fast sogar unmöglich, zu beschreiben welche Spannung sich mit der Zeit zwischen uns aufgebaut hat. Allzu oft passiert es in letzter Zeit, dass sich unsere Blicke treffen und ineinander verfangen, bei dem Versuch den anderen unbemerkt zu beobachten.

Es ist wie pure Elektrizität ...
Die Härchen auf meinen Armen stellen sich augenblicklich aufrecht, während ein Schauer nach dem anderen dabei über meinem Rücken jagt. Ein Tunnelblick, ja, so kann man es wohl treffend beschreiben. Durch das Halbdunkel des Lokals bahnt sich ein kleiner Tunnel aus purer Energie seinen Weg, von meiner Iris direkt in ihre. Gebündelt wie ein Laserstrahl, ohne Ablenkung und Energieverlust … brenne ich ihr, und sie mir, ein Bild von Zweisamkeit ins Gehirn. In diesen Momenten ist es, als wären wir beide alleine auf dieser Welt. Keinerlei Geräusche dringen dann mehr in mein Bewusstsein ein.

Ein Flüstern, ein Versprechen, eine Verlockung von unvorstellbarer Kraft vernehme ich dann in meinem Kopf. Ich lese ihre Gedanken, direkt aus ihren Bewegungen und Blicken, die mir unverblümt ihr Verlangen nach meiner Nähe und unserer Zusammengehörigkeit zeigen.

Die Zeit … sie steht scheinbar in diesen Momenten still, verstreicht für uns beide unbemerkt. Wenn wir wirklich alleine in diesem Raum gewesen wären, nicht so manches mal einer von diesen Kerlen in diesem Lokal versuchen würde sich an sie ranzumachen, wir wären wohl nie in den normalen Zeitablauf zurückgekehrt.

In diesen Momenten muss ich dann fluchtartig das Lokal verlassen, um wieder Herr über meine Sinne zu werden. Zu groß ist dann das Verlangen ihren Verehrer auf der Stelle in Stücke zu zerreißen, ihre Aufmerksamkeit allein für mich zu beanspruchen. Meist gehe ich dann durch die verlassenen Straßen dieser Stadt, auf der Suche nach einem schnellen Opfer, allein um meinen Hass abzureagieren, mir meiner eigentlichen Stärke und Aufgabe wieder bewusst zu werden.



HEUTE ABER

Heute also ist der große Tag, heute ist der Tag der Tage – besser die ultimative Nacht. Ich bin auf dem Weg in das Lokal, gehe über den langen Flur vom Nachbarhotel der direkt in dieses Lokal führt.

Der Portier des Hotels sitzt hinter seinem Tresen und liest in seiner Zeitung. Als ich an ihm vorüber gehe, hebt er nur kurz den Kopf und lächelt mir zu. Ich bin mir sicher, dass er mich nicht wirklich wahrgenommen hat, dass es nur ein Reflex ist. Ich antworte ihm mit einem freundlichen Nicken. Sein Blick versenkt sich wieder in die Zeitung, und ich gehe meinen Weg ungehindert weiter, trete endlich in das Lokal ein.

Es ist wie schon so oft. Laute Musik, Rauch und Stimmengewirr schlagen mir entgegen. All das, was ich sonst so sehr verabscheue und vermeide, wo immer ich es kann, genieße ich hier. Ich sauge gierig die Stimmungen des Raumes in mich auf. Ihre Ausstrahlung habe ich schon verspürt, bevor ich sie überhaupt sehen kann. Und dann sehe ich sie auf ihrem Barhocker an der Theke sitzen. Seit ich dieses Lokal ihretwegen besuche, beansprucht sie diesen Platz für sich. Sie hat ein Glas Bier neben sich auf der Theke, das unangetastet ist und auch bleibt, während der ganzen Zeit in der ich sie beobachte. Sie lässt ihren Blick gelangweilt durch die Menschenmenge schweifen.

Ihr Blick ist von Traurigkeit erfüllt.
Zu jung erscheint sie mir, denn ich habe sie für mich auf höchstens zwanzig Jahre eingeschätzt, um schon soviel Trauer in ihrem Blick zu haben. Doch dann bemerkt sie, dass ich sie beobachte. Überraschung, fast schon ein klein wenig Verwirrung, blitzt kurz bei ihr auf. Schnell verschafft sich jedoch ein kleines Lächeln Platz in ihrem Gesicht. Diese spontane Reaktion lässt sie für mich nur noch begehrenswerter erscheinen. Verlegen schaue ich auf meine Armbanduhr, beschließe noch ein wenig zu warten. So verharre ich allein und schweigend, sie aber nicht mehr aus den Augen lassend, auf meinem Platz neben der Tür.

Die ersten Lichter werden jetzt gedämpft, tauchen das Lokal in eine intime und warme Atmosphäre. Unsere Blicken treffen sich wieder, und ich kann das Gefühl nicht mehr länger unterdrücken. Es wird immer stärker, und so beschließe ich mich auf den Weg zu ihr zu machen.

Ich schiebe mich an den letzten Gästen, die noch vereinzelt herumstehen, vorbei.
Als ich sie erreicht habe, spreche ich sie an ... zum ersten Mal überhaupt. Wir beide kommen sehr schnell ins Gespräch. Im Laufe der Unterhaltung zeigt sie, erst zögernd, dann aber immer häufiger, das Lächeln, das mich so verzaubert hat. So vergehen Stunden, und ich habe das Gefühl endlich jemanden gefunden zu haben, der mich versteht.

Irgendwann meint sie, dass es schon spät ist, dass sie nach Hause muss.
Kurz habe ich das Gefühl, besser die Hoffnung, sie wird mich nun fortschicken, denn ich will sie nicht meinen Bedürfnissen opfern. Trotzdem schlage ich ihr routinemäßig vor, sie noch zu begleiten. Sie hat nichts gegen meine Gesellschaft einzuwenden; fast ist ihr anzumerken, dass sie darauf gehofft hatte. So verlassen wir also das Lokal zusammen, machen uns auf den Weg zu ihrem Zuhause.



AUF DEM WEG

Während wir uns angeregt unterhalten, hakt sie sich bei mir unter, ist mir jetzt näher als je zuvor. Dieses Vertrauen finde ich liebenswert, verspüre auf einmal eine tiefe Zuneigung für sie. All ihre kleinen zufälligen oder absichtlichen Berührungen, während des bisherigen Abends, waren eine einzige Aufforderung an mich. Mein Herz schlägt zwar vor Freude Saltos, hämmert aber auch gleichzeitig vor Panik gegen meine Brust.

‘Was, wenn ich …’.

Ihre Stimme lenkt mich von meinen Gedanken ab.
Ich unterhalte sie mit einer unverfänglichen Geschichten aus meinen Leben, merke dabei, dass sie sich immer wohler an meiner Seite fühlt. Sie hat nichts von meiner dunklen Seite bemerkt, und das ist auch mein Ziel. Mein aufgesetztes und falsches Lächeln hat sie mir nur zu bereitwillig geglaubt, denn sie will mich haben. Ohne jeden Zweifel, warum auch immer. Oh, wie leicht sich Menschen täuschen lassen.

Jetzt kuschelt sie sich enger an mich, schmiegt sich wohlig in meinen Arm. Ich spüre wie Trauer mich überkommt, beim Gedanken daran, dass ausgerechnet sie es sein muss. Wir sind alleine unterwegs, um uns herum Stille.

Von fern hörte man das pulsierende Leben der Stadt, und ein Park taucht im Dunkel vor uns auf. Ohne Hast steuert sie unsere Schritte auf diesen Park zu. Voller Vertrauen geht sie an meiner Seite in den Park, der fast vollkommen im Dunkel liegt, da nur alle hundert Meter eine kleine Laterne steht, um wenigstens etwas Licht zu spenden. Der leichte Regen lässt die Blätter der Bäume geheimnisvoll rascheln. Fast hört es sich wie ein Flüstern, wie ein ungläubiges Raunen an. Als wenn die Bäume ahnen können, was nun gleich geschehen wird. Nervös werfe ich einen unauffälligen Blick in die Runde, und dann sehe ich ihn hinter einem Baum stehen und auf uns warten.

Ich bin keineswegs überrascht, denn seit ich denken kann war er, auf der Suche nach Absonderlichkeiten und Abnormales, mir immer wieder begegnet. Ein seltsames Band schien uns schon immer zu verbinden. Obwohl ich zu weit von ihm entfernt bin, höre ich seine Worte in meinem Kopf klingen.

Und da erwachte sie plötzlich, diese entsetzliche unstillbare Gier nach dem Ungeheuerlichem, die mich so lang schon peinigt. Angestachelt und aufgeheizt von seinen Forderungen, die ich laut in meinem Kopf höre, bahnt sich dieser Hunger danach Leben zu beenden, die Macht eines Gottes zu besitzen, seinen Weg in mein Denken.

Davor habe ich mich schon den ganzen Abend gefürchtet, obwohl ich doch genau deswegen überhaupt die Sicherheit meines Zimmers aufgegeben habe. Die ganze Zeit, die ich jetzt schon mit ihr zusammen durch die Nacht gehe, habe ich mich schon gefragt, wann sie wohl durchbrechen wird - diese Gier. Noch versuche ich, ihr zuliebe, verzweifelt gegen das Verlangen anzukämpfen, doch es ist längst zu spät für mich. Seit Wochen schon habe ich meinen Wünschen und Vorstellungen gegenüber die nötige Distanz aufgegeben. Er und ich, wir beide haben es für uns schon zu oft und zu gründlich ausgemalt, wie es sein wird.

Bis ins kleinstes Detail haben wir es immer und immer wieder in Gedanken durchlebt, Pläne gemacht und wieder verworfen. Sie scheint von meiner inneren Unruhe nichts zu bemerken, und geht zufrieden an meiner Seite weiter. Ich sehe ihr ins Gesicht, direkt in ihre grünen Augen. Ich genoss zwar ihre Nähe, dennoch war ich froh, als wir die Mitte des Parks erreicht hatten. Bisher hatte ich mich noch unter Kontrolle gehalten, und bald wären wir wieder auf belebten Straßen, und sie somit wieder, zumindest für Heute, aus der Gefahr zum Opfer meiner Begierde zu werden heraus.



DER BRUCHTEIL EINER SEKUNDE

Doch Er ...
Er in meinem Kopf, Er muss oder will diese liebenswerte Frau mit den traurigen Augen unbedingt haben. Es ist fast ein körperlicher Schmerz, mit dem Er mich dazu treibt meinen Hunger an ihr zu stillen. Ohnmächtig gegen das Verlangen, stöhne ich heftig und laut vernehmlich auf.

Sie hört es, will lachen, doch da spürt sie wie ihre Handgelenke von meinen Händen gepackt und auf ihren Rücken gedrückt werden. Ihre grünen Augen starren mich an, und sie weiß, dass es um ihr Leben geht.

Ihre Angst erregt mich. Sie schreit auf, doch keiner kann sie hören. Die Stille dieser Nacht umgibt uns von allen Seiten. Ich ersticke die Laute des Schmerzes, die sie von sich gibt. Sie wehrte sich nach Kräften, versteht nicht, was mit ihr geschieht, spürte nur einen seltsamen kurzen Stich in ihrer Brust und dann … die aufsteigende Kälte, die sich durch ihren Körper schleicht, ihr langsam die Kraft nimmt.

Kein Schrei mehr, kein Stöhnen … nichts.

Das Letzte, dass sie wahrscheinlich noch wahr nimmt, sind meine strahlend blauen Augen die sie begierig dabei beobachten, wie ihr Leben ihr entgleitet. Für den Bruchteil einer Sekunde kommt dann diese ersehnte Erlösung - die das Denken beendet, Gedanken auslöscht, mich frei in dem unendlichen Nichts schweben lässt … mich einfach nichts mehr spüren lässt, nur diese tiefe Ruhe in mir. Erleichterung … oder gar Freude und eine wiedergewonnene Freiheit?

Ohne das bleibt die Welt für mich jedenfalls ein düsterer Ort … ganz ohne Licht und Geborgenheit. Viel zu schnell ist es dann vorüber, der Sturm in meinem Kopf kehrt zurück, schwillt an. Das Hier und Jetzt, für eine viel zu kurze Zeit weit entfernt, in so hoffnungsvolle Ferne gerückt, holt mich schnell wieder ein.

Keine Gefühle, aber vorbei!
Ein neuer Anfang … ein lachendes Gesicht für euch.

Doch die Tränen in der Nacht, auf meinem Kissen … und wer hört schon meine stummen Schreie? Wer spürt mit mir meine Angst … wer achtet auf meine Tränen? NIEMAND! Meine Lust ist vergangen, und nun ekel ich mich vor mir selbst. Ich hasse mich. Hasse mich und alle Frauen dieser Welt.

Ich rieche die frische, unberührte Luft, den Duft der Freiheit, doch … dann rieche ich den bittersüßen Duft des Todes, das Blut, das ich durch meine Verzweiflung vergossen habe.

Behutsam fange ich den leblosen Körper auf und streiche ihr mit zitternden Fingern das vom Kampf wirre Haar sorgfältig aus dem Gesicht. Ihre Augen sind weit aufgerissen, vor Schrecken und schieren Unglauben. Keine Traurigkeit, die ich am Beginn des Abends darin gesehen habe, ist mehr vorhanden. Mit Bedauern drücke ich ihre Augenlider zu, und hebe sie hoch. Ich mache mich auf zu dem See, in dem sie vorerst ihre letzte Ruhe finden wird.

Ich spüre sogar eine einzelne Träne meine Wange entlang laufen, als ich mit der toten Frau in den Armen in die Dunkelheit untertauche.



DAS ENDE

Und so sitze ich jetzt hier und erzähle; Tränen brennen in meinen Augen … aber niemand da, der mir sie trocknen will. Das Gute in mir schafft es nicht mehr, das Böse zu übertreffen. Wieder hat es mich getrieben …

Langsam beginnt sich mein Inneres wieder zu füllen, und ich kann wieder zurückdenken, ohne das ich das Brennen des Schmerzes verspüre. Dafür aber wurde mein Herz kalt. Ich empfinde nichts mehr, für niemanden habe ich mehr Gefühle, nicht einmal für mich selbst.

Oft rief ich um Hilfe, aber ihr wolltet ja nicht hören. Ich benahm mich auffällig, um Blicke auf mich zu ziehen, doch keiner wollte es sehen. Ich wollte ja aufhören, so oft schon einfach nur aufhören … doch mein Wille ist gebrochen, bin mir selbst ausgeliefert, machtlos und schwach … selber nur ein Opfer. Ich wusste doch genau, dass es nicht immer gut gehen würde. Und obwohl ich wusste, dass es wieder passieren würde, wie schon so oft zuvor … hielt nichts mich davon ab. Jederzeit kann es wiederkommen, das Verlangen zu töten, diese Macht … eines Gottes gleich zu besitzen. Doch ihr macht nichts dagegen, lasst mich brennen in meiner Hölle!

In mir immer diese Gedanken … vom Bösen getrieben. Und so stehe ich stehe morgens auf, sehe in den Spiegel und spreche dabei die Formel; jene magischen Worte, die mir Eure Welt erträglicher macht. Dann mache ein weiteres Kreuzchen in mein Notizbuch, und gehe schließlich, mit einem Lächeln für euch im Gesicht, aus dem Haus. Gleich werde ich aus der Zeitung erfahren, wer diese Frau war. Niemand aber wird jemals erfahren, wer der Täter war.

Niedergeschlagenheit breitet sich in mir aus.

Denn immer, wenn es dunkel wird, in der Welt und mir, dann treibt es mich wieder raus - auf die Jagd nach jenem Bruchteil einer Sekunde … meines Glücks und inneren Friedens.



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