Irrläufer


Einstand...

Prolog zum Thema Selbstdarstellung


Die Hölle...
Ha, hatte man doch ernsthaft versucht mir damit zu drohen, dass es hier die Hölle für mich werden würde. Diese armseligen Gestalten, als wenn man mir noch mit der Hölle drohen könnte.

Die katholische Kirche hatte mich zu gut auf die Gestallten der Hölle eingestellt, mir als Kleinkind schon Bilder von diesen Wesen und deren Begleitern zur Genüge gezeigt. Unvergesslich die Folterszenen, die sich nach Angaben der Prediger so und noch viel schlimmer im Fegefeuer und der Hölle abspielen sollten.

Und das alles in der Hoffnung mich zu einem 'guten Christen' zu machen. Gehorsam und wohlgefällig ihren Riten und Gebräuchen zu folgen. Ihren Gott, der letztlich, ihrem Glauben nach, auch mich erschaffen hat, zu huldigen. Nur hatten sie dabei übersehen, dass ihr Gott mich schon seit meiner Geburt in eben dieser Hölle schmoren ließ.

"Gott hat mich nach seinem Ebenbild erschaffen".
Nun, wohl weniger direkt mich, aber eben die Gattung Mensch, der ich mich zu dieser Zeit noch angehörig fühlte.

Das war aber letztlich auch alles, was ich mir aus ihren Phantastereien und Lügenmärchen herauspickte. Wenn ich mich im Spiegel betrachtete, war ich mit meinem Erscheinungsbild stets höchst zufrieden.

'Ja, so mag wohl nur ein Gott aussehen', raunte ich mir dann zu, trotz der Angst im Nacken Gott könnte es hören und mich dafür strafen. So perfide hatten sie mich und meine Urängste manipuliert, so das ich immer unwillkürlich daran denken musste: 'Gott sieht und hört alles, es gibt kein Geheimnis vor ihm!'.

Nun denn, da eben dieser Gott die Welt erschaffen hat, leider viel zu hektisch innerhalb von sechs Tagen, muss ja auch 'alles was da kreucht und fleucht' ebenso ein Produkt eben jenes Gottes sein. Bei der Endkontrolle, am siebten Tage, lehnte er sich ja, angeblich, bei dem Anblick der Welt zufrieden zurück und befand sein Werk für besonders gelungen.

So also auch mich, die Personifizierung alles Bösen?

Die Hölle...
Es gibt sie nicht, nicht als diese Institution. Nicht so, wie sie immer gerne dargestellt wird, um Menschen einzuschüchtern und zu gehorsamen Untertanen zu degradieren.

Ja doch, es gibt sie... die Hölle!
Jenen grausamen Ort, an dem die zu durchleidenden Qualen einem jedem den Verstand endgültig rauben können. Aber sie ist in jedem einzelnen von uns. Jeder hat eine ganz persönliche und einzigartige Hölle, und jeder trägt sie, meistens allerdings tief in sich verborgen, und oft von ihnen selbst unbemerkt, mit sich herum.

Einige wenige allerdings überschreiten die Einschränkungen des menschlichen Geistes, werden sich dieses Umstandes bewusst, erleben ihre Hölle plötzlich bewusst. Dann, irgendwann im Laufe der Zeit, steigen diese Menschen aus ihrer Asche wieder empor, sind von da an jenseits von Gut und Böse, stehen von da an außerhalb jeglicher Angreifbarkeit. 





Man füttert nicht die Hand, die einen beißt
Lebensweisheit zum Thema Erziehung


Es war einfach nur genial, so zu leben wie jetzt.  Nicht das ich Prügel – und denn auch noch in diesem unbeschreiblichen Ausmaß – durch irgendwelche Vergehen gegen Recht und Ordnung, die hier im Hause nur für uns Pflegekinder gültig waren, verstoßen hätte. Nein, es war die pure Existenz und Anwesenheit meiner Person, die bei meiner Pflegemutter den Ehrgeiz weckte mir andauernd irgendwelche Untaten anzudichten, um dann genüsslich meiner Bestrafung durch ihren Ehemann für diese Untaten beiwohnen zu können.

Ach ja, diese Frage habe ich mir auch oft gestellt: warum haben sie mich denn erst bei sich aufgenommen, wenn ich doch so unerwünscht war? Warum gaben sie mich nicht einfach in die Obhut des Jugendamtes zurück, auf das ich in ein Kinderheim oder zu anderen Pflegeeltern kommen konnte.

Nun denn, um auf die Überschrift zurück zu kommen...
Ich bot einfach keine Angriffsfläche mehr – dank Ute, ihrer eigenen Tochter. Seit Ute ein sexuelles Verhältnis mit mir aufgezogen hatte, seitdem war ich die Ruhe in Person und hörte auf ihre Vorstellungen vom 'artig sein', und das nicht nur Nachts in ihrem Bett. Ich war jetzt immer 'sauber, pünktlich, artig, gehorsam, hilfsbereit' usw. Ute hatte mir unter anderem auch erklärt, wie sich ihre Mutter es vorstellte, wie ein Pflegekind in der Familie zu sein hat.

Nein, nicht wie ein Sklave, der hätte ja Geld bei dem Erwerb gekostet... für mich bekamen sie ja sogar noch monatlich Geld vom Jugendamt dazu!

Egal, so reichte es höchstens mal für eine einfache Ohrfeige, oder ein paar Schläge mit dem Kochlöffel zwischendurch, die aber letztlich nicht wirklich weh taten, da sie nur körperlich, aber nicht mehr seelisch, lediglich einen sanften Schmerz auslösen konnten. Nun ja, wer aufs gröbste körperlich Misshandelt wird, der bekommt im Laufe der Zeit ein gestörtes Verhältnis zum Schmerz – verschiebt die Schmerzgrenze in ungeahnte Höhen. Meine Seele konnten ihre albernen Schläge und Attacken nicht mehr erreichen, denn ich wurde endlich geliebt... zwar nur von Ute, und auch nur wenn ich es ihr 'richtig besorgte', aber immerhin. Egal was auch immer war, eine ganze Nacht an dem warmen nackten Körper von Ute gedrückt durchschlafen zu können, ohne von Alpträumen geplagt zu sein, war alles andere, was ich bei Ute dafür auf mich nehmen musste, wert – selbst, wenn es mich oftmals vor Ekel schüttelte.

Tja, der Nachteil an meiner Zeit ohne grobe Misshandlungen war eben, dass dafür jetzt mein Bruder Gerd dafür bei der Pflegemutter herhalten musste, was sich später fatal rächen sollte... aber das ist eine andere Geschichte und außerdem nicht wirklich mein Problem!

Somit hatte ich im Alter von ungefähr Zehn bis etwas über Zwölf Jahre eigentlich 'eine gute Zeit', denn ich füttert nicht mehr die Hand, die mich beißt...


Anmerkung: 
vorgegebenes Gesprächsthema war: 'Wendepunkte in der Kindheit'.





Die Hand
Innerer Monolog zum Thema Mutter


Fünf Finger hat die Hand – laut Bauplan jedenfalls. Und die Handfläche, an der die Finger ihren Platz haben, verwurzelt sind.

Na, dass der Daumen nicht zu sehen ist, dass kann ich ja noch verstehen. Ist ja normal, und hab ich schon oft so gesehen, hier vorm Spiegel. 


Nur – warum zur Hölle kann ich nie die anderen vier Finger richtig erkennen? Und die Handfläche zeichnet sich auch nicht besonders schön ab! Dabei hat Mutter sich doch alle Mühe gegeben - es gut hin zubekommen. Sie wollte doch auch einen solchen schönen Abdruck wie ich in der Schule abliefern. 


In der Schule da haben wir unsere Hand voll Farbe geschmiert, und dann auf das Papier gedrückt. Das sah ganz anders aus, als hier vor dem Spiegel. Man konnte, wenn man die Farbe nicht zu dick aufgetragen hatte, auf dem Papier in der Schule sogar die Falten, die grob die Handfläche durchziehen, richtig sehen. Als weiße Linien. 


Aber hier so, vor diesem blöden Spiegel, kann ich davon nichts erkennen. 

Liegt wohl an dem Material? 
Kinderhaut ist eben noch zu elastisch, kehrt noch zu schnell in die Ursprungsform zurück. Muss wohl damit zu tun haben, nehme ich mal an? Bin ja noch zu klein und zu dumm, ob das genauer ergründen zu können. Na ja, ich werde das einfach mal in Auge behalten, ist doch mal eine lohnende Sache.

Mutter wird mir mit Sicherheit nur zu gerne dabei behilflich sein. 

Vielleicht kann ich ja irgendwann mal Mutter davon überzeugen, so rein als Forscher gesehen, mir ausnahmsweise mal nur eine einzelne Backpfeife zu verpassen, anstatt mir immer nur wahllos und ungehemmt das Gesicht zu Brei schlagen zu wollen. 


Vielleicht werde ich dann im Spiegel die Hand besser wiedererkennen - die mich eigentlich streicheln statt schlagen sollte? 
So mit Handfläche, den Falten darin, und den fünf Fingern – die sie ja noch alle hat. 

Na gut, wie gesagt... den Daumen, da muss man sich schon sehr viel Mühe geben, damit auch der dann zusehen ist. 


Und das ist ja leider nicht unbedingt Mutters Stärke. 

Das mit der Geduld und dem Mühe geben. Geduld hat sie nicht, nie gehabt. Aber Ausdauer, deshalb überlagert ja auch immer eine Hand die Andere... in meinem Gesicht, hier vor dem Spiegel. 

Nee, ich bin nicht Eitel, aber kaltes Wasser lindert den Schmerz, und der Spiegel hängt nun mal über dem Waschbecken. 

Das ist alles... 
eigentlich!


Anmerkung: 
Gesprächsthema war: 'KinderErziehung'


Er sagt: "Ach, letztlich waren ihre Schläge doch nur ein Witz. Wirklich schlimm wurde es immer wenn... Nee sorry Alter - geht noch nicht, lass und ein Break machen - bitte!"




Am Anfang war kein Licht
Szene zum Thema Mutter


"...erzähl doch nicht so einen Blödsinn, jeder Mensch hat eine Mutter", widerspricht sie mir einfach.

"kann sein... erzähl mir mal, was denn deiner Meinung nach eine Mutter ist", entgegne ich genervt.
 
Bei dem Wort 'Mutter' überzieht meine Zunge stets ein pelziger Geschmack. Wie Schimmel auf dem Brot - so grau und dick und auch staubig. 


Normalerweise rede ich nicht darüber. Vergangenheit... 


Ha, Kindheit... bin nie Kind gewesen! 

Habe es eingesponnen, in einen Kokon aus Stacheldraht. Hochsicherheits-Trakt! Scheiß Liebe, scheiß Zufriedenheit nach einem guten Fick - was lockst du nur aus mir raus. 

"Nun ja, sie hat dich geboren, geliebt, genährt, getröstet, gepflegt, im Arm gehalten, gestreichelt, geküsst und vieles mehr", legt sie sich ins Zeug, um mich eines Besseren zu belehren, "...ich könnte ja noch weiter aufzählen, was eine Mutter ist - aber das weißt du doch selbst", beendet sie ihre Fleißarbeit mir Selbstverständlichkeiten zu erklären. 

Während ich nach dem Feuerzeug greife, stoße ich: "Ja eben, dass weiß ich selbst", hervor, stecke mir meine Kippe an, und ziehe den Rauch tief in meine Lungen, "... und deshalb kann ich ja auch sagen ICH habe keine Mutter, hatte sie nie...", beende meinen Satz damit, während der Rauch meine Worte gnädig einhüllt. 


Ungläubig schaut sie mich an. 

"Wie meinst du, erklär mir das doch mal", fordert sie mich bittend auf. 

Mein alter Hass bricht auf, ich presse mit eiskalter und schneidender Stimme: "Nun, meine 'Mutter' war lediglich eine Gebärmaschine, ein Uterus, nicht mehr", aus mir heraus. 
Ich winde mich aus ihrer Umarmung, ziehe krampfhaft an der Kippe - und dann bricht der Damm und es quillt aus mir raus: 

"Genauso gut hätte ich auch ein Reagenzglas bei der Zeugung und ein Brutkasten zum Reifen als Mutter haben können...", keife ich los, wische mir hektisch über die Augen, keine Tränen zulassen wollend. 


'Du bist Rudi Knallhart', rufe ich mich gedanklich zur Ordnung, fahre trotzdem mit meinem Anfall fort. 


"Verblüffende Ähnlichkeit hatte sie damit... pass auf, ich zähl mal auf:

- mich lustlos und aus Langeweile gezeugt, um einen Kerl an sich zu binden, zu halten, 
- mich versteckt und verleugnet ausgetragen, - mich nach 9 Monaten ausgeschissen und verachtet,
- mich achtlos rumliegen und rumkrabbeln lassen, lieber gesoffen und gefickt, so ungehemmt, auf das eines Tages Leute vom Jugendamt mich ihr wegnahmen und ins Heim steckten..." 

Kraftlos versiegte mir der Redefluss. 


Da war sie, diese scheiß verfluchte Träne. 
Nein, nicht weil ich keine Mutter hatte, sondern lediglich mein Selbstmitleid hatte sie mir entlockt. 


Mit beißender Ironie und unsäglicher Bitternis in der Stimme brachte ich noch ein: "Ja, eine Mutter, für wahr! So gesehen - ODER?", hervor, bevor ich weinend auf ihre Brust sank und versuchte meinen Hass wieder loszulassen. 



Anmerkung:
Nein - ohne meinen Anwalt sage ich kein Wort mehr!





Gespenster
Erzählung zum Thema Kindheit


So so, du glaubst also nicht an Gespenster?
Diese Gestalten in weiße Gewänder gehüllt, die an allen möglichen und unmöglichen Stellen urplötzlich auftauchen. Komische Geräusche von sich geben, und seltsam anmutende Dinge tun.

Nun, da habe ich eine Überraschung für dich.
Es gibt sie wirklich – oder besser es gab sie, jedenfalls damals in meiner Heimatstadt. Keine Ahnung ob es gute oder böse Gespenster waren, aber auf jeden Fall recht komische.

Obwohl – eigentlich war es ja nur dies eine Gespenst. Es tauchte in einer eiskalten Februarnacht das erste Mal auf, direkt auf unserem Dach. So erzählt man sich das jedenfalls in unserer Siedlung.

Ich selber kann das nicht sagen, ich habe es nicht mit eigenen Augen gesehen.

Es soll sich ganz langsam über den Dachfirst unseres Blockes geschoben haben und irgend etwas großes in der Hand gehalten haben. Dann stellte sich das Gespenst aufrecht auf den Dachfirst, und balancierte auf den Schornstein des Nachbars zu. Dort verharrte es dann eine ganze Weile auf dem Schornstein stehend. Es muss beeindruckend anzusehen gewesen sein, diese schneeweiße Gestalt dort auf dem Schornstein. Wenn zu dieser Zeit Schnee gelegen hätte, dann hätte man es wahrscheinlich gar nicht sehen können. Aber so hob sich die Gestallt beim Besteigen des Dachfirsts wunderbar vom Rot der Dachpfannen ab. Und dieser Kontrast verstärkte sich noch um einiges, als das Gespenst dort auf dem Schornstein stand. Es soll sich so schön scharf von dem mit grauen Wolken verhangenen Nachthimmel abgezeichnet haben. Jedenfalls waren die Zeugen dieser Erscheinung wie versteinert hinter ihren Gardienen am Fenster stehen geblieben, um sich dieses Schauspiel anzuschauen.

Laut Zeitzeugen soll das Gespenst dann diesen Gegenstand, den es mit sich führte, über diesen Schornstein entleert haben. Leider war die Entfernung für die Zeugen dieser Begebenheit zu groß, um sagen zu können, was genau da passierte. Nach dem entleeren dieses Gegenstandes soll das Gespenst wieder den Schornstein verlassen haben, den Weg über den Dachfirst zurückbalanciert, und wieder Stück für Stück aus dem Blickfeld geraten sein. Dieses soll sich insgesamt dreimal wiederholt haben.

Wie gesagt, ich kann leider keine genaueren Angaben dazu machen, da ich viel zu sehr damit beschäftigt war, in meinem langen Nachthemd bei meiner Nachbarin eimerweise Wasser in den Schornstein zu kippen.

Ich wollte in der Nacht so ihre Feuer in den Öfen auslöschen... auf das sie erfriert. Dreimal bin ich mit einem zehn Liter Eimer voll Wasser diesen Weg auf dem Dach gegangen. Leider war ich erst sieben Jahre alt, und zu dumm, wusste nicht das es so nicht klappen kann!

Man, habe ich diese Frau gehasst, selbst heute noch.
Es wäre ihre Pflicht gewesen die Polizei zu rufen, und mich so aus meinen Qualen zu befreien, als Zeugin der sich stetig wiederholenden Misshandlungen.

Aber so ging es noch jahrelang so weiter...
wurde immer schlimmer...


Hinweis:
Ich hoffe doch sehr, du achtest besser auf deine Nachbarskinder – oder? 

Denn es gibt diese Gespenster, glaube es mir ruhig... 
ich war dabei! 





Böses Blut
Erzählung zum Thema Selbstverletzung


Keine Ahnung mehr, wie dieser Ausdruck 'böses Blut' in meinen Kopf gekommen ist. War wohl noch der Verdienst meiner Pflegemutter gewesen, denn die hatte ja jede Menge solcher Sachen drauf.

Ein Beispiel:
"...wer denn meine Eltern eigentlich sind", fragte ich eines Tages. "Dich hat der Esel im Galopp verloren. So einen wie dich bringt keiner freiwillig zur Welt", war die 'nette' Antwort meiner Pflegemutter darauf. So wird sie mir wohl auch dies 'böses Blut' eingeimpft haben, wenn ich mal etwas anstellte.

Egal, hat hier nichts mehr zu suchen. Sorry dafür.

Warum es passiert ist, dass jetzt dieser Ausdruck 'böses Blut' in meinem Kopf rumschwirrt, dass weiß ich aber genau.

Es ist mal wieder einer dieser Tage, an dem mein Lehrmeister mich in den Wahnsinn treibt. Herumschreien und toben mit mir, obwohl ER selbst doch schuld ist. Aber das ist ja egal, dafür hat man ja schließlich Lehrlinge.

Als ich vom Plumpsklo zurückkomme, wo ich erst mal eine Beruhigungskippe geraucht habe, da ist es passiert. Er steht mit dem Rücken zu mir an der laufenden Bandsäge. Ein Uraltmodel ohne die nötigen Schutzeinrichtungen - freilaufende Bandsäge.

Die Einladung schlecht hin.
Langsam gehe ich auf ihn zu, und trete ihm von hinten die Beine weg, so das er mit dem Schädel in die laufende Bandsäge fällt. Ein aufjaulen des Motors und das spritzen von Blut, ist alles was ich für den Augenblick wahrnehme.

Dann bin ich wieder klar und gehe an meine Werkbank um weiterzuarbeiten. Aber der Gedanke daran, es wirklich zu machen - war noch nie so deutlich in mir. So bildhaft hatte ich es mir zuvor noch nie vorgestellt.

Und von diesem Augenblick an sind sie da, diese Worte.
Immer und immer wieder sagt eine Stimme in meinem Kopf dieses 'böses Blut' zu mir. Wird zur Manie, und übertönt selbst das Gegröle meines Meisters. Oh mein Gott, hoffentlich ist bald Feierabend – ich muss hier raus. Ich drehe durch.

Stunden später:
Ich sitze in der Lehrlingsgruppe, oben im Kinderheim, und es kreist immer noch 'böses Blut' im Schädel. Der Drecksack in meinem Kopf gibt einfach keine Ruhe. Egal was ich auch immer anstelle – seine Stimme ist immer zu hören. Keine Ablenkung hilft. Egal was auch immer ich mache, er ist lauter. Überschreit alles. Selbst die laute Musik hilft da nicht.

Die Idee, schlagartig ist sie da.
Das 'böse Blut', das muss einfach nur raus aus dem Körper, dann ist wieder Ruhe. Na klar doch, ist doch ganz offensichtlich. Das will der Kerl in meinem Kopf mir doch nur klar machen. Weg mit dem 'bösen Blut', bevor etwas unaussprechliches passiert. Nicht das ich tatsächlich noch dem Meister mal die Beine wegtrete. Obwohl, verdient hätte er es ja. Ich habe eine schöne Spritze, eine Megapumpe. So eine richtig schöne große mit einer dicken fetten Nadel. Die habe ich als Souvenir aufbewahrt, von damals von meiner Hormonbehandlung. Es schüttelt mich, wenn ich an diese Folter zurückdenke.

Aber diese Fixe, die kann ich jetzt gut gebrauchen.
Ich sitze mit der Fixe im Klo eingeschlossen. Langsam steche ich die Nadel in die dicke Vene. Ich habe so richtig geile Adern. Dick und prall gefüllt zeichnen sie sich auf meinen Armen ab. Wie Straßenkarten. Kein Problem eine geeignete Stelle zu finden. In der Armbeuge, wo zwei dieser Ungetüme zusammenstoßen, da habe ich die Nadel jetzt stecken. Langsam drücke ich mit dem Daumen den Schieber der Fixe nach oben.

Böses Blut, da fließt es in den Kolben der Fixe.
Liegt es am Licht, oder ist es nur Einbildung? Zäh und schwarz rinnt das 'böse Blut' unaufhaltsam in den Kolben. Es geht mir gut dabei, wird immer besser. Das Blut wird, je voller die Pumpe wird, wieder heller und flüssiger.

Das 'böse Blut' kann mich nicht länger vergiften. Der Kopf gibt Ruhe, die Stimme ist verklungen – alles wird gut.

Böses Blut... 

Ein Ritual ist geboren.

Mein Meister macht weiter so mit mir - Ich auch!
Ich gehe nicht mehr zum Rauchen auf das Klo, ich lass lieber das 'böse Blut' ab, damit ich ihn nicht doch noch eines Tages in die Säge trete...

Frühling, Wärme, hochgekrempelte Ärmel bei der Arbeit.
Mein Meister will wissen ob ich krank oder ein Fixer bin, und zeigt auf meine zerstochenen Arme. Ich habe ihm was von Aufbaupräparaten erzählt. Und klar gemacht, dass ein Fixer diese Zwangsarbeit gar nicht überstehen würde. Hat das Arschloch nicht geschnallt, das mit der Zwangsarbeit. Na ja, Bild-Leser, was kann man da schon erwarten? Wie soll der auch mitbekommen was ich alles zwischen den wenigen Sätzen, die ich überhaupt mal von mir gebe, so zu ihm sage. Ist halt sehr einfach gestrickt, der Kerl.

Wann das aufgehört hat, dass mit dem ‚bösen Blut’ ablassen?
Ich glaube, als das mit Susi und dem Heimleiter anfing. Da hatte ich endlich wieder besseres zu tun, als mich über meinen Meister zu ärgern. Meine Zeit der Rache an den Sack vom Heimleiter war endlich gekommen. Hatte ja auch lange genug auf eine passende Gelegenheit dafür gewartet.

Aber das ist eine andere Geschichte.


Anmerkung:
"Mitunter wundere ich mich, wie Du aus ein paar Sätzen, die ich erzähle, einen solchen Text machen kannst", sagt Er grinsend.




Meistens war es ein Dreier - für mich jedenfalls.
Szene zum Thema Hilfe/ Hilflosigkeit


Längst ist die Musik vom CD-Player verstummt, denn Ewigkeiten sind, in unserem Liebesrausch von uns unbemerkt, vorbeigezogen. Doch wir küssen uns immer noch leidenschaftlich und hingebungsvoll. Weit geöffnet sind unsere Augen, suchen im Gegenüber nach Wahrheit, nach Seele, nach Unendlichkeit. Wir versinken immer tiefer in uns, in endlose Weiten.

Ja doch, ich weiß ... DAS will hier keiner von mir nicht hören, gehört aber eben auch dazu. Ist ja auch nur die Version, wie sie ihnen immer vorgemacht wurde.

Aber mal ehrlich, sie wollen halt 'so was' hören, und warum auch nicht, wenn es mich doch an mein Ziel bringt. Mir tut es nicht weh, und sie fühlen sich besser damit - können von Liebe träumen, übersehen dadurch meine Schwächen. Es heißt doch: "In der Liebe und im Krieg ...".

Sie wussten ja nicht, das jederzeit 'ES' mit von der Partie sein konnte, selbst ich ahnte es ja vorher nie ob. Ein Geräusch, eine Bewegung oder Geste, ein Geruch, das falsche Wort - was auch immer, wir waren nie wirklich sicher vor ihm.

Wärme, na klar - körperliche Wärme, den Geschmack von salziger Haut und diesen unvergleichlichen Geruch, den nur ein erregter Frauenkörper ausströmt.

Nein, es war egal ob sie hübsch oder hässlich, schlau oder dumm, jung oder alt, lustvoll oder devot war - darum ging es wohl nicht. Ich habe alle Sorten Frauen ausprobiert. ES meinte lediglich: "Ach, scheiß auf Aussehen und Intellekt - ich will einfach nur einen warmen Körper ... zwischen den Beinen sind sie doch eh alle gleich".

All zu oft hatte ich die Arbeit die Frauen abzuschleppen, und ES drängte mich dann mittendrin einfach beiseite und hatte seinen Spaß mit ihr. Nun ja, wirklich schlimmeres ist ja nie passiert - zumindest strafrechtlich gesehen!

Letztlich habe ich mich dann nur noch mit Frauen eingelassen, weil ich unbedingt das Gefühl wieder haben wollte, das ich als Kind so bei Ute erlebt habe. Sicherheit, Geborgenheit und mit Glück ein wenig echte Zuneigung oder gar Liebe.

Ein Zuhause eben, meine eigene kleine heile Welt in die 'ES' nicht eindringen konnte, 'ES' so seine 'Spielereien' woanders ausüben musste. Oder so, ich weiß es doch auch nicht. Aber wirklich geklappt hat es nie.

Was so passierte, ob ich ein Beispiel geben kann? Moment ...

Ja, nehmen wir doch die eine Nacht mit Marie, ein 'besonders schönes' Beispiel und für mich daher schon unvergesslich, da 'ES' schon seit so langer Zeit verschwunden war und ich mich sicher fühlte.

Aber bitte nicht mehr Heute ...
ich bin jetzt emotional nicht wirklich in der Lage darüber zu erzählen. Morgen bestimmt. Habe ja die ganze Nacht Zeit mich darauf vorzubereiten ...


Anmerkung :
Gesprächsthema war : 'Sexualität & Frauen'






Es gibt keinen Grund -
Angst zu haben im Bett

Szene zum Thema Verwandlung


Es ist kuschelig, warm, so richtig gemütlich...
und außerdem sind wir nicht alleine,
denn 'ES' liegt neben dir.

Meine Finger fahren sanft und forschend über dein Gesicht. 

Mein Daumen zeichnet die Kontur deiner Augenbraue nach. Dann gleitet meine Hand sanft an deiner Wange entlang, runter zu deinem Hals. Sie umspannt nur leicht deinen Hals, und doch ist er fordernd dieser Griff – die Finger an der Wirbelsäule, den Daumen auf deinen Kehlkopf gelegt. Völlig in deinen Gefühlen aufgelöst, wird dein Kuss jetzt noch intensiver.

Dann atmen wir uns ein... 

geöffnete Münder, Lippen an Lippen, fängt gierig den Atem des Anderen ein, tauscht so Leben aus. Wir sind Eins, verschmelzen zu einer Einheit, im Erleben unseres Verlangens. Ich spüre das du nur noch Körper bist, kein Denken dein Handeln mehr lenkt. Hemmungslos, willenlos, gnadenlos dir selbst gegenüber – wirst einzig noch von deiner ungezügelten Lust gelenkt.

Und ich?
Ich taumle auch langsam in diese völlige Willenlosigkeit rein, die mich all das machen und denken lässt – was sonst so undenkbar und unvorstellbar ist. Und dann passiert 'ES', unbemerkt von dir, dieser Übergang... selbst für mich so überraschend.

Mein Geist trennt sich vom Körper, lässt nur soviel Substanz zurück, um die Fassade aufrecht erhalten zu können. Von gefühlter Lust und Leidenschaft, hin zum erlerntem Handeln. Automatismen, einstudiert in all den Jahren meiner Einsamkeit im Herzen, übernehmen das Verwöhnen deines Körpers für mich. Zielsicher, fordernd und zuverlässig, tausendfach erprobt und an deine Lust angepasst, denn ICH bin nicht mehr wirklich 'bei derSache'.

Mein ICH fängt an zu schweben, Gedanken geraten völlig außer Kontrolle...

Wenn ich jetzt... 
Wieso denn auch nicht, denn ein DU gibt es eh nicht mehr, denn du bist in mir aufgegangen. Hast mir dein ICH ja geopfert, auf dem Altar deiner Liebe und Lust. Hast es zugelassen, ja sogar gefordert, dass ich mir deine Seele einverleibe. Hast nur gelacht, als ich es dir gestand... das ich Hörner habe – das Böse in Person bin.

Ein wenig fester drücken...

Mein Blick hält deinen weiter gefangen. Ich suche nach verräterischen Spuren in deinen Augen, will sehen ob du meine Flucht bemerkt hast, du meine Gedanken erahnen kannst. Doch da ist nichts, nichts außer den flatternden Lidern und den vor Lust geweiteten Pupillen.

Wenn ich jetzt mit dem Daumen fester zudrücke, was geschieht dann? Was würde ich in deinen Augen dann sehen? Pupillen die sich vor Schreck auf Stecknadelkopfgröße zusammen ziehen, Lider die vor Angst weit aufgerissen werden, hilfloses rollen der Augäpfel. Oder würden sich deine Augen so drehen, dass ein leichtes Schielen einsetzten, da sich deine Lust noch mehr steigert? So wie es sonst immer passiert, wenn ich dich mit neuen Spielarten meiner Lust überrasche?

Aufreizend langsam lasse ich meinen Daumen von deinem Kehlkopf den Hals hoch zum Kinn gleiten. Dort, an der Stelle wo der Kehlkopf in Richtung Kinn endet, dort müsste ich zu drücken. Mit der richtigen Kraft, und dem nötigen Ruck, könnte ich dir das Zungenbein brechen – einfach so! Würdest du dich in meinen Armen im Todeskampf winden? Oder wärst du zu weit weg von realer Wahrnehmung, käme dein Tod für dich überraschend?

Mein Daumen erreicht dein Kinn, folgt den Konturen deines Kiefers, um sich dann doch wieder den Hals herunter zum Kehlkopf zu schleichen. Diesmal drücke ich ein wenig fester zu, aber nur so, dass es dir nicht meinem Atem, den ich dir spende, und den du begierig in dich einsaugst, raubt.

Wie um alles in der Welt kannst du mich einatmen, und doch nicht ahnen wie nahe du dem Ende bist? Mein Atem ist doch von der Schwere meiner Gedanken durchtränkt, geht selbst mir so schwer von den Lippen, auf das ich daran ersticken könnte...

Etwas verändert sich, deine Augen, die Pupillen... oder die Farbe? Deine Hände halten mein Gesicht liebevoll umfasst, dein Kopf rückt von meinem weg. Ich verliere den Fokus, deine Seele entgleitet mir.

'Liebst du mich denn auch so sehr - wie ich dich liebe?' Stumm steht dir diese Frage in den Augen geschrieben. Oder ist es mein Gedanke, kommt diese Frage aus mir heraus? Wo fängst DU an, wo höre ich auf. Wagst du es mir diese verbotene Frage laut zu stellen – oder gar ich mir selbst?

Was ist passiert, was hat mich verraten? Wieso konntest du mir entkommen? Was wird aus...

Da liegst DU, schaust mich erwartungsvoll an, das Leuten der Lust aus den Augen verloren, und hier ICH. Ein Lächeln der Erleichterung huscht über mein Gesicht, atmen geht wieder leichter. Ich bin wieder Eins mit mir, wieder Herr über meine Sinne und meinem Körper.

DU bist endlich zurück, wieder Eins mit dir.
Meine Hand gibt deinen Hals frei, gleitet über den Rücken langsam in Richtung Po von dannen. Ein fernes Rauschen nur noch, meine Gedanken von eben.

...dann wäre es doch endlich vorbei...

Alles vorbei, und der letzte Fetzen dieser ungezügelten Gedanken verhallt in meinem Kopf - unberücksichtigt. Einzig meine Frage danach, wie du mir entkommen konntest, steht mir noch in den Augen und lässt dich fragen:

"An was hast du gerade gedacht?".

"Nichts mein Engel... ich habe nur gefühlt – mich einfach viel zu wohl gefühlt... um noch denken zu können", rede ich mich heraus.

wie gesagt:
Es gibt keinen Grund - Angst zu haben im Bett.

Es ist kuschelig, warm, so richtig gemütlich...
und außerdem bist du nicht alleine,
denn ich liege neben dir.


Anmerkung:
Gesprächsthema: 'Sexualität & Frauen' - Fortsetzung




Einer dieser Tage
Szene zum Thema Psyche


Ein ganz normaler Tag, im Prinzip.
Ich hänge gerade vor dem Fernseher ab, Nachrichten oder so, und mein Hund liegt neben mir auf dem Sofa. Den Kopf hat er, wie immer, auf mein Bein gelegt, und sich auf den Rücken gedreht. Die Vorderbeine liegen, leicht eingeknickt, auf seiner Brust. Die Hinterbeine hat er weit von sich gestreckt. Meine Hand liegt auf seinem Hals an der Kehle und krault ihn.

Plötzlich ist es wieder da, dieses Gefühl, als wenn mir der Knochen meines Schädels das Gehirn zu sehr einengt. Durch den Druck, und die dabei entstehende Reibung, fängt meine Stirn an zu kochen.

'ICH' finde immer mehr außerhalb meines Schädels statt.

Der Fernseher läuft, aber keine Ahnung was dort abgeht – getrübter Blick und Watte in den Ohren. Geräusche erreichen das Ohr, aber nicht mehr das Gehirn. Der Raum verdunkelt sich, langsam, fast unmerklich.

"Ich weiß das du da bist", murmle ich mir in den Bart. Ich kenne diesen Zustand, weiß was kommt.

Alles um mich herum verändert sich, wird kalt und abweisend. Die Stimme aus dem Fernseher wird stumm, das Bild hat einen tiefen Blaustich, komische Farben – irreal.

Obwohl ich angestrengt auf den Bildschirm starre, sehe ich im Augenwinkel einen Schatten durch die Küche huschen.

"Kannst ruhig herkommen, ich hab dich gesehen. Was willst du mich aus der Küche beobachten? Komm doch her, und setzt dich zu mir aufs Sofa, wir können doch reden", rede ich auf ihn ein, ohne den Blick vom Fernseher zu wenden.

Keine Reaktion, keine Antwort... war es doch nur eine Einbildung?

"Ich habe keine Angst vor dir. Ehrlich gesagt... ich habe sogar schon auf dich gewartet".

Das scheint zu wirken, denn aus der Küche schlurft er gelassen heran, setzt sich neben mich auf die Sofalehne, und starrt auch auf den Fernseher.

Schweigen... 
auf beiden Seiten.

Verstohlen schaue ich ihn mir von der Seite an. Er hat sich, im Gegensatz zu mir, überhaupt nicht verändert. Ein vertrautes Gesicht, die typische Körperhaltung. Immer sprungbereit, wie ein gejagtes Wild. Ein Kind noch, vom Aussehen her – so um die acht Jahre alt. Und doch ist auch er schon Jahrzehnte alt.

"Ich kann dir helfen aus dieser Scheiße rauszukommen, aber du musst dafür ein ziemlich großes Opfer bringen", bricht er das Schweigen, ohne mich dabei eines Blickes zu würdigen.

"Ja... ich weiß".

Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.

Ich kenne seine Vorlieben und Bedingungen, habe lange Zeit meines Lebens mit ihm zusammen verbracht. Aber ich habe doch nichts mehr, was er von mir haben wollen kann? Ich habe mich schon vor langer Zeit aus der Welt zurückgezogen, lasse keinen Menschen mehr an mich herankommen – geschweige denn in meine Wohnung. Nur wir beide sind hier im Haus, sonst wäre er ja auch nicht rein gekommen.

Ist so eine Macke von ihm... 
Unsichtbarkeit!

Keiner kennt ihn. Keiner, jedenfalls keiner der es überlebt hat, hat ihn je gesehen. Außer mir eben. Er vertraut mir genauso blind, wie ich ihm. Er dreht seinen Kopf zu mir, schaut mir grinsend ins Gesicht und deutet mit dem Kopf auf meinen Hund. Sein eiskalter Gesichtsausdruck sagt mir mehr als tausend Worte.

"Tue es, und ich werde dir die Behörden und das andere Pack vom Hals schaffen. Von mir aus kannst du dann auch noch Geld wie Heu haben, endlich wieder unabhängig werden... nicht mehr betteln müssen".

Ich weiß, dass er ein ’Nein’ nicht akzeptieren wird. Seine Forderung steht im Raum, ich muss jetzt meine Entscheidung treffen. Vorher wird er kein Wort mehr mit mir reden, nicht für mich da sein.

"Nein... nicht ihn! Das ist alles was ich noch habe, und auf dein Geld da scheiße ich, Geld ist nicht mein Problem".

Schlagartig ist alles wieder normal. Der Fernseher schreit mir ins Ohr, die Sonne scheint grell in das Zimmer, und die Sofalehne neben mir ist leer.

Ich wusste es vorher.

Diesmal konnte ich ihm noch widerstehen, aber wer weiß schon wie lange noch. Er wird wiederkommen, dass ist sicher... so sicher, wie das Amen in der Kirche. Und es wundert mich nicht. Erstaunt bin ich nur darüber, dass es so lange gedauert hat.

Zeitenwechsel, eine neue Ära steht bevor.
Seine Gegenwart hat es angekündigt. Erst mal werde ich es, wie immer schon, ignorieren. Verdrängen und nicht beachten... mein Leben einfach versuchen so weiter leben, ohne seine Hilfe. Keine Ahnung wie lange ich es durchstehe, aber die Zeichen stehen mal wieder auf Sturm.

"Warum lasst ihr mich auch nicht endlich einfach in Ruhe. Ist das denn wirklich zuviel verlangt", frage ich laut in den Raum, in dem nur noch mein Hund und ich sind.

Erfahrungsgemäß werden sich die Abstände seiner Besuche schnell verkürzen. Und eines Tages... oh man, Gnade euch Gott!

"Ich wollte Frieden mit euch", stoße ich wütend hervor, "und Ruhe vor euren scheiß Wertvorstellungen".

Ich habe mich im Laufe der Jahre zum Einsiedler entwickelt... nur weil ich innerhalb meiner Möglichkeiten 'normal' bleiben wollte. Und ihr maßt euch als Antwort darauf an, mich zum Sklaven zu degradieren.

'Arbeit macht frei' – als oberstes Staatsprinzip?

Gegen jede Vernunft versucht ihr es an mir zu praktizieren. Nur weil ich noch zuviel Stolz besitze, mich nicht offiziell als 'verrückt' einstufen lassen will, und mich erst recht nicht zum Sklaven machen lasse.

Der alte Hass, meine Ohnmacht den Behörden gegenüber, und diese unendliche Einsamkeit... in die ich mich nur zurückgezogen habe, um euch vor 'mir' zu schützen. Das wird euch noch eines Tages bitter aufstoßen, wenn ihr nicht endlich Ruhe gebt.

Ich hoffe nur, dass mein Hund an Altersschwäche stirbt, bevor ich doch noch nachgebe. Die Chancen stehen ganz gut, da er schon fünfzehn Jahre mit mir gemeinsam auf dem Buckel hat, und schon kaum noch den Hintern hochbekommt. Oft dachte ich schon, dass er über Nacht gestorben ist, lag wie tot da... atmete kaum, der zähe Kerl.

Aber wehe, wenn nicht!
Wenn der Damm erst wieder einmal gebrochen ist...




Pierre
Szene zum Thema Lebensweg


"Kann ich mich zu dir setzten?".
Noch während er mich das fragte, zog er sich schon den Stuhl zurecht und grinste mich dabei frech an. Verstohlen warf ich einen Blick auf die Uhr – fast vier Uhr morgens. Eigentlich wollte ich schon lange nebenan, oben im Hotel, schlafen, konnte mich aber nicht aufraffen aufzustehen. Wozu auch, bei dem Lärm auf der Reeperbahn war an Schlaf eh nicht zu denken, und das gute Bauernfrühstück lag träge in meinem Magen, ließ mich satt und zufrieden vor mich hin träumen.

"Und, was liegt noch an", fragte er.

"Keine Ahnung, bin irgendwie wohl zu satt und zu faul um abzuhauen".

"Was treibt dich immer hierher? Langsam hast du dich zu einem Stammgast hier entwickelt. Immer nachts, immer alleine – und immer nur essen und dann eventuell nebenan ins Hotel. Kommst du zum Spaß, oder was treibt dich hier her?".

"Na, eine Menge Fragen auf einmal. Ich dachte immer, dass hier auf dem Kiez keine Fragen gestellt werden", lachte ich ihn an. "Nee, hier gibt es nun mal das beste Bauernfrühstück der Welt, dass ist auch schon alles".

Zum ersten Mal nahm ich mir die Zeit ihn mir genauer anzusehen. Wie ein Franzmann sah er nun wirklich nicht aus, eher wie man sich einen Itaker vorstellt. Schwarze Haare, braune Augen, ein sauber ausrasierter kleiner schwarzer Schnurrbart und blendend weiße Zähne, wenn er – wie jetzt – breit lächelt. Die übliche Rollex am Arm und eine dünne Goldkette mit Anhänger.

"Ja, wem sagst du das mit dem Essen", dabei schob er genüsslich seine Hand über seinen kleinen Bauchansatz, "davon hab ich auch schon einiges verdrückt. Ich heiße übrigens Pierre, aber das hast du bestimmt schon mitbekommen. Und wie soll ich dich nennen", fragte er mich lässig.

"Tischler, alle nenne mich nur Tischler...".

"Wollen wir uns noch ein Bier gönnen, Tischler? Ich habe gleich Feierabend und keine Lust nach Hause zugehen. Da wartet eh keiner auf mich".

"Ein andermal gerne, aber ich habe noch einiges zu erledigen. Von irgendwas muss der Mensch ja leben", versuchte ich ihn abzublocken.

Ich mochte es nicht mehr, wenn man zu schnell auf mich losging – suchte mir meine Gegenüber jetzt gerne selber aus. Obwohl er nie den Eindruck 'schwul zu sein' auf mich gemacht hatte, bin ich in der Beziehung bös vorsichtig geworden. War noch nicht lange her, dass ich schon mal auf 'so einen' reingefallen war. Ein Barbesitzer am Holstenwall. Kam eines Tages mit zwei Weibern im Arm hier vorbei und überredete mich mitzukommen. Dann hat er mich in seiner Bar abgefüllt und anschließend 'vernascht'. Die Weiber waren leider nur 'lecker Transen' aus der 'Monika-Bar' gewesen – und ich zu blöde das zu erkennen.

Egal, immerhin lagen morgens fünfundzwanzig Mark und neue Unterwäsche auf meinen Klamotten. Die Kohle konnte ich auch sehr gut brauchen, da mein letzter Bruch schief gegangen war. Nur – ich hatte einfach keine Lust mehr auf die Kerle. Lieber gehe ich klauen und einbrechen, statt mich weiter von den Schwulen ablecken und befummeln zu lassen. Sicher, es war im Prinzip leicht verdientes Geld – aber ich fühlte mich nicht sonderlich wohl dabei. Es machte mir nicht viel aus, nicht deswegen, aber ich hasse es wenn die Kerle vor Geilheit ihren Verstand verlieren und sich wie die Tiere aufführen. Währe ich selber schwul, dann währe es wohl erträglicher – aber ich mag nicht diese raue Haut und diese eklig vielen Haare, den meist nach Alkohol stinkenden Atem, und dann auch noch am Ende dies widerlich schleimige Sperma überall. Nee, da lobe ich mir die Frauen. So weich, anschmiegsam und gut riechend.

"Was treibst du denn so? Nach richtiger Arbeit siehst du nicht gerade aus, und deine Klamotten haben auch schon länger keine Waschmaschine mehr gesehen", riss er mich aus meinen Gedanken, während er sich dabei vorbeugte und mich interessiert musterte. "Ich frage dich das nur, weil ich jemanden für einen freien Job suche. Dabei habe ich gleich an dich gedacht. Ich habe dich schon längere Zeit beobachte, und du scheinst mir ein zuverlässiger Kerl zu sein. Du säufst nie und bist immer auf der Hut, ein typischer Gejagter. Immer eine Wand im Rücken und die Tür im Auge. Das ist mir gleich am ersten Abend aufgefallen, dass du dich erst mal gründlich hier umgesehen hast... hast dir wohl einen Fluchtweg für Notfälle gesucht, stimmts?".

Es muss wohl an seinem offenen Blick gelegen haben, dass ich ihm über den Weg traute. Ich hatte ihn immer nur als Kellner zur Kenntnis genommen. Das er 'Beziehungen' hier auf dem Kiez hatte, das wurde mir schon nach einigen Nächten klar. Wenn der 'Einmarsch der Gladiatoren' stattfand, dann verschwand er mit den Luden zusammen im Hinterzimmer und blieb lange Zeit da drin verschwunden. Keine Ahnung, was da in dem Zimmer so vor sich ging – war ja auch nicht mein Bier. Nichts hören und sehen, das war das Hauptprinzip auf dem Kiez – das hatte man mir schon vor langer Zeit beigebracht.

"Kann sein, man kann ja nie wissen... auf dem Kiez ist ja immer alles möglich", grinste ich ihn an, und fummelte dabei meinen Tabak aus der Hosentasche.

Ich nutzte gerne die Zeit, die es brauchte eine Zigarette zu drehen, um meine Gedanken zu sortieren und nachzudenken. Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und beobachtete mich dabei. Ich ließ mir diesmal reichlich Zeit beim Drehen, und er wartete schweigend geduldig ab.

Er redete nie viel, dass war mir schon am ersten Tag hier in der Kneipe aufgefallen. Wenn er nichts zu tun hatte, stand er meistens am Tresen und las in einem Buch; meist Sartre oder Nietzsche. Ein Umstand, der mir auf Anhieb einen gewissen Respekt vor ihm eingeflößt hatte. Sowas hätte ich hier auf dem Kiez nun wirklich nicht erwartet, in so einer Kaschemme.

Umständlich zog ich mein Feuerzeug aus der Tasche und zündete mir meine Kippe an. Betont lässig rutschte ich auf den Stuhl halb unter den Tisch, und blies den Rauch genüsslich durch die Nase raus.

"Und was für ein Job soll das sein?".
Ich hoffte es klang gelangweilt, als wenn ich es gar nicht nötig hätte und nur aus Höflichkeit nachfrage würde. "Keine Einzelheiten, darauf habe ich keinen Bock... nur - für alles bin ich nicht zu haben... scheiß auf legal oder nicht, aber relativ sicher sollte es schon sein. Ich hab auch so schon genug am Hals, kann keinen Stress hier auf dem Kiez gebrauchen. Das soll weiterhin mein Rückzugsraum bleiben, denn hier in Hamburg kennt mich keiner - das soll auch so bleiben".

"Am besten besprechen wir das im Hinterzimmer. Kannst du Billard spielen? Meine Geschäfte mache ich immer beim Billard spielen – da kann ich besser bei Denken", antwortete er, zwinkerte mir zu und erhob sich dabei ohne meine Antwort abzuwarten. Er war sich seiner Sache sehr sicher, musste ein guter Menschenkenner sein.

'Bringt der Job wohl so mit sich', dachte ich, während ich aufstand um ihm ins Hinterzimmer zu folgen. Es war der Anfang einer meiner seltsamsten Freundschaften, die ich je eingegangen bin. Hätte ich jedoch da schon geahnt... ich wäre wohl nie wieder auf dem Kiez aufgetaucht, und erst recht nicht auf sein Angebot eingegangen.


Anmerkung:
Nachdenklich murmelt er: "Scheiße, was eine kleine verfickte Kugel so anrichten kann... egal, wir sehn uns!".





Von der Leichtigkeit des Seins
Szene zum Thema Institutionen


Als Pierre mir vom 'Café Keese' und den Möglichkeiten erzählte, war das einer der wenigen Momente, an dem ich meiner Schule und meiner großen Schwester Ute dankbar war. War ich doch, um nervenden Fächern aus dem Weg zu gehen, in die Leistungsgruppe Standart-Tänze gegangen. Cha-Cha-Cha, Foxtrott, Walzer und Co., die für das 'Café Keese' Grundvoraussetzung waren, beherrschte ich dadurch sogar ganz gut, und wie man 'Frauen glücklich macht', dass hatte Ute mir als Kind schon ausgiebig beigebracht.

Zwar passte ich als Kleinganove, mit meinen langen Haaren und Lederklamotten, wirklich nicht ins 'Café Keese', aber andererseits schrieben wir das Jahr 1973 und die Zeiten hatten sich geändert. Auch Frauen wollten mal etwas 'anderes, wildes, jenseits ihrer gewohnten Bahnen' ausprobieren, und da kam ein junger, relativ gut aussehend und gut gebauter Kerl, wie ich, wohl gerade recht. Mit der Zeit hatte ich mir einen 'gewissen Ruf', und damit auch einen festen Platz in dem Laden erarbeitet.

"Umsatz ist hier im Laden alles was zählt! Wie Du das anstellst, ist alleine Dein Bier Kleiner, aber hier drinnen musst Du dafür sorgen das der Rubel rollt. Du musst die Weiber durstig machen und dafür sorgen, dass sie genug Kohle für Getränke und so hierlassen, oder Du fliegst gleich wieder... Fragen?", begrüßte mich Werner, der Ober, der für diese Tischreihe zuständig war.

"Und bilde Dir ja nicht ein, dass Du vom Umsatz auch nur eine müde Mark abbekommst. Ach ja, was Du sonst noch mit den Weibern machst, ist allein Deine Sache – aber erst kommt der Umsatz hier! Wenn Du im Laufe des Abends dann ein Zimmer brauchst, komm zu mir. Ich gebe Dir den Schlüssel für das interne Zimmer". Auf meinen fragenden Blick hin sagte er: "Ist alles mein Umsatz und unser Geld, wenn Du woanders kein eigenes Zimmer nimmst", grinste er mich dabei gönnerhaft an. Die dort versteckte Kamera vergaß er dabei allerdings zu erwähnen... aber dazu später mehr.

So fing das seinerzeit an, als ich meine Karriere als Auto-knacker/schieber aufgeben musste, und Pierre mich dann im 'Café Keese' einführte.




Impressum
Tag der Veröffentlichung: 16.03.2014
Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
den Kindern!


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